Das Phantombild

Ein Kurzkrimi

 

Müde und abgespannt stützte Ermittler Anton Kavniz die Ellbogen auf seinen Schreibtisch und rieb sich die Augen. Er machte seinen Job jetzt seit beinahe vierzig Jahren und hatte dementsprechend viel erlebt. Der Kalte Krieg, diverse Krisen, Anschläge, organisierte Kriminalität – die Liste ließe sich längere Zeit fortführen. Dabei hatte er seinen Beruf immerzu gerne und mit Leidenschaft ausgeübt.

Doch nach den letzten Wochen und Monaten war es das erste Mal in seiner gesamten Dienstzeit, dass er das Gefühl hatte, die Dinge würden ihm langsam, aber sicher über den Kopf wachsen.

Nicht nur, dass der Terror vor kurzem in sein Land zurückgekehrt war – heimtückischer und skrupelloser, als man es je für möglich gehalten hatte –, trieb zu allem Überfluss auch noch ein Serientäter seit geraumer Zeit sein Unwesen.

Kavniz seufzte schwer. Und das alles ausgerechnet ein halbes Jahr vor seiner Pensionierung.

Es war seltsam. Noch niemals zuvor hatte er es mit einem Täter wie diesem zu tun gehabt. Nicht einmal ansatzweise.

Früher war es vergleichsweise einfach gewesen: Schon nach kürzester Zeit hatten die sogenannten „Profiler“ – vor wenigen Jahren hätte man noch „Kriminalpsychologen“ gesagt – ein detailliertes Psychogramm des Verbrechers erstellt. Mit dessen Hilfe wussten sie genauestens über zugrundeliegende Verhaltensmuster, das Tatmotiv und die persönlichen Vorlieben des Täters Bescheid – manchmal sogar, wann und wo er welches Essen einzunehmen pflegte. Aufgrund solcher Musteranalysen war es ihnen bis dato immer möglich gewesen, die nächste Gräueltat vorherzusagen und den Gesuchten schließlich dingfest zu machen.

Doch diesmal schien es sich um einen völlig unberechenbaren Irren zu handeln.

Es gab kein erkennbares Muster. Wahllos schlug er zu, nicht nur an unterschiedlichsten Orten, die augenscheinlich überhaupt nichts miteinander zu tun hatten, sondern – und das war das Bemerkenswerte: auch mit den unterschiedlichsten Methoden.

Die einen Male kam es zu brutalen Morden, und das auf so verschiedenste Art und Weise, dass einem regelrecht übel werden konnte, welche Bandbreite an Fähigkeiten dem Täter offenbar zur Verfügung standen, um andere Menschen grausam zu töten.

Die anderen Male fiel er heimtückisch und schnell über seine erwählten Ziele her, ohne sie jedoch umzubringen. Ehe seine Opfer etwas bemerkten, standen sie plötzlich da und blickten auf klaffende Wunden herab, mit denen sie zwar überlebten, jedoch nicht ohne für den Rest ihres Lebens schmerzende Narben oder gar schwere Beeinträchtigungen davonzutragen.

Er schien sich äußerst geschickt und lautlos zu bewegen, sodass die Leidtragenden seine Anwesenheit immer erst bemerkten, wenn es bereits zu spät war.

Unter diesen Voraussetzungen stießen sogar die besten „Profiler“ an ihre Grenzen.

Und letzte Woche hatte es auch noch Kavniz‘ eigene Nichte erwischt. Sie war schlicht zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. So einfach war das, und doch so bitter. Bettina war Mitte zwanzig und in der Blüte ihres Lebens. Ihr Onkel war seit jeher von ihrer Lebenslust und ihrem Tatendrang beeindruckt gewesen. Jetzt lag sie seit fünf Tagen im künstlichen Tiefschlaf, und es war völlig ungewiss, ob sie überhaupt wieder erwachen würde. Und ob sie jemals wieder dieselbe sein würde wie zuvor.

„Toni, es gibt Neuigkeiten!“

Die Stimme eines seiner Kollegen riss Kavniz jäh aus seinen trübsinnigen Gedanken. Mit bleierner Schwere hob er seinen Kopf und beendete das Augenreiben.

Ferdinand Spreitz, mit dem er seit vielen Jahren eng zusammenarbeitete – aufgrund seiner Statur von den meisten nur „der lange Ferdl“ genannt – blickte auf ihn herab. Obwohl er wie üblich äußerlich gefasst wirkte, kannte ihn Kavniz gut genug, um die Aufgeregtheit hinter seiner Fassade erkennen zu können.

„Gerade hat uns die Zentrale das hier rübergeschickt“, berichtete Spreitz ohne Umschweife und reichte Kavniz einen Ausdruck.

Dieser erkannte sofort, worum es sich handelte. „Ein Phantombild?“ fragte er überrascht.

Der lange Ferdl nickte. „Zusammengebastelt aus zahlreichen vagen Zeugenaussagen. Sie waren im Einzelnen nicht viel wert, aber mit modernster Datentechnik in Summe doch überraschend brauchbar.“

Endlich eine positive Wendung, dachte Kavniz und erhob sich rasch von seinem Platz. „Dann verlieren wir keine Zeit“, sagte er mit neuer Entschlossenheit.

„Wo sollen wir anfangen?“ fragte der lange Ferdl.

„Am letzten Tatort“, antwortete Kavniz. „Eine große Wohnhausanlage, in der er ziemlich gewütet hat. Viele Anrainer, und die Spur ist noch frisch. Wäre doch gelacht, wenn niemand etwas gesehen hätte.“

Umgehend machten sie sich auf den Weg, mit einem dicken Stapel des rasch kopierten Phantombilds in der Tasche.

Sie nahmen ihre Ermittlungsarbeit auf jenen Stiegen der Anlage auf, wo es Opfer gegeben hatte – an den Hotspots sozusagen. Gleich die erste Tür, an der sie klingelten, wurde von einer älteren Dame geöffnet.

Nachdem sich die beiden Kriminalisten vorgestellt und kurz erklärt hatten, warum sie hier waren, griff Kavniz in seine Tasche, um das Fahndungsfoto herauszuholen und fragte: „Würden Sie wohl einen Blick auf das Bild werfen und uns sagen, ob Sie dieses Gesicht schon einmal gesehen haben?“

Doch bevor er es noch ganz herausgezogen hatte, machte die Dame eine abwehrende Geste und erwiderte: „Lassen’s das stecken! Mit sowas will ich nichts zu tun haben.“ Sprach’s, trat in ihre Wohnung zurück und schloss rasch die Tür.

Verdutzt starrten die beiden Ermittler einander an. Nach kurzem Kopfschütteln gelangten sie jedoch zu der Vermutung, dass die Dame ob der jüngsten Ereignisse wohl noch ziemlich verstört zu sein schien. Daher beschlossen sie, nicht noch einmal in sie zu dringen und wandten sich der nächsten Tür zu.

Ein Mann etwa Ende vierzig, Anfang fünfzig öffnete und hörte sich geduldig die gleiche erklärende Ansprache an, die die beiden im Lauf des Tages noch an vielen weiteren Türen herunterbeten würden. Doch bevor Kavniz ihm das Phantombild zeigen konnte, winkte auch er energisch ab.

„Zeigen Sie das zuerst den anderen im Haus. Wenn sich daraus nichts ergeben sollte, können Sie ja wieder zu mir kommen.“ Ebenso wie die alte Dame zuvor hatte auch er es plötzlich eilig, seine Tür wieder zuzumachen.

Verwirrt und stirnrunzelnd machten sich Anton Kavniz und Ferdinand Spreitz daran, eine weitere Klingel zu betätigen.

Dieses Mal standen sie einer jungen, sportlich gekleideten Frau gegenüber. Als auch sie zur Verwunderung der beiden keinen Blick auf das Fahndungsfoto werfen wollte, hakte der lange Ferdl nach. „Darf ich fragen, warum Sie es nicht einmal kurz anschauen möchten?“

„Ich habe von Leuten gehört, die beim Betrachten solcher Bilder auf einmal psychische Probleme bekommen haben. Einige davon mussten sich daraufhin angeblich sogar jahrelang in Therapie begeben“, lautete ihre Antwort.

„Sind Ihnen solche Fälle persönlich bekannt?“ wollte Anton Kavniz wissen.

„Nicht direkt“, gab die junge Frau zu, „aber was weiß man schon, was nicht alles passieren kann? Ich möchte lieber nichts riskieren.“

Sie schloss die Türe zwar nicht ganz so schnell wie ihre beiden Vorgänger, doch ihr entschlossenes Nein war eindeutig und endgültig.

Beim vierten Bewohner handelte es sich offensichtlich um einen enthusiastischen Bodybuilder, der seine auftrainierten Muskelpakete unter einem hautengen T-Shirt sichtbar zur Schau stellte.

Als die Kriminalisten ihre Begrüßungsrede gehalten hatten und ihm das Foto zeigen wollten, schüttelte er entschieden den Kopf.

„Das interessiert mich nicht“, blockte er ab. „Wenn mir der Wappler persönlich begegnen sollte, kriegt er eine rechte und eine linke von mir, dass er selber im Koma liegt. Dann könnt’s ihn gerne bei mir abholen.“

Und so ging es tendenziell weiter. Es gab zwar sehr wohl eine nicht geringe Zahl an Bewohnerinnen und Bewohnern, die das Phantombild eingehend betrachteten und ihre Hilfe zusagten. Aber eine derart hohe Quote an Menschen, die einem solchen Routinevorgang plötzlich abwehrend gegenüberstanden, war den beiden Kollegen noch niemals untergekommen.

Fassungslos verließen die zwei Ermittler das letzte Stiegenhaus, um sich im Hof frische Luft zu verschaffen.

„Also, ich versteh‘ die Welt nicht mehr“, meinte Kavniz. „Klar, dass das ein Schock ist, wenn ein Massenmörder in der nächsten Nachbarschaft sein Unwesen treibt und nach wie vor frei herumläuft. Aber gerade dann müssten die Leute doch größtes Interesse daran haben, der Polizei zu helfen, um ihn endlich hinter Schloss und Riegel zu kriegen.“

„Natürlich“, erwiderte Spreitz nachdenklich. „Allerdings wissen wir auch, dass sich die Menschen in Angstsituationen nicht immer logisch verhalten.“

Da ist was dran, musste Kavniz innerlich zugeben.

Etwas niedergeschlagen machten sie sich auf den Weg zurück zum Präsidium in der Hoffnung, bei einem starken Kaffee auf frische Ideen zu kommen, wie sie ihre Ermittlungen weiter vorantreiben konnten…

 

Wir schreiben die letzten Wochen des Jahres 2020. Das Ende dieses Krimis ist noch nicht geschrieben. Eine Lösung gibt es allerdings, nämlich dass es sich bei den Protagonisten um reine Platzhalter handelt:

Der Serientäter ist SARS-CoV-2, das Phantombild die Impfung dagegen. Anton Kavniz und Ferdinand Spreitz könnten Mediziner sein, die sich jetzt in ihrem Dienstzimmer einige Fragen stellen.

Warum stehen so viele Menschen dem Phantombild weit skeptischer gegenüber als dem tatsächlich mordenden Serientäter, sodass sie es lieber riskieren, ihm persönlich zu begegnen als einen Blick auf dessen Abbildung zu werfen? Oder anders gesagt: Warum wird eine Impfung als gefährlicher eingeschätzt als eine Infektion mit der tatsächlichen Krankheit, obwohl die Impfung lediglich Informationen für die „Körperpolizei“, also das Immunsystem enthält und nicht den aktiven Erreger an sich?

Und worauf beruht diese Skepsis eigentlich? Auf fundiertem Wissen? Oder auf vagen Gefühlen, die als diffuse Ängste gerade so allgemein in der Luft liegen und von denen man eigentlich nicht richtig weiß, woher sie kommen?

Suggestivfragen? Mag schon sein.

Sollte diese Geschichte zu einem kritischen Nachdenken über solche Fragen führen – in diesem Fall auch über die eigene Skepsis –, dann wäre ihr Zweck erfüllt.

Ich für meinen Teil kenne keinen einzigen Menschen, der von einer Impfung dauerhaften Schaden davongetragen hätte, aber leider genügend Menschen, die unter Krankheiten – mittlerweile auch Covid19 – oder deren Folgen zu leiden hatten. Und einige davon verloren sogar ihr Leben.

Daher werde ich persönlich sicher nicht zögern, mir ehestmöglich das Phantombild anzusehen, bevor ich – möge es mir erspart bleiben – dem Serientäter persönlich begegne…

 

P.S.: Erwähnt sei noch, dass die Namen der Hauptpersonen Anagramme sind: Kavniz für Vakzin, Spreitz für Spritze. Die Nichte Bettina beinhaltet sowohl „Bett“ als auch „beten“ – zwei Dinge, die viel zu viele Menschen derzeit leider mehr als nötig haben.

Und das ist jetzt nicht der Versuch einer Manipulation (auch das ein Modewort – wer eigentlich? wen? und vor allem: wie??), sondern schlicht und einfach die große Freude an Wortspielereien…