Der Radsandler
„Schaffen wir es bis Laxenburg?“ fragte ich meinen Freund Michael, als wir gerade von zu Hause mit den Fahrrädern aufbrachen.
„Mal sehen“, lautete seine nüchterne Antwort.
Wir waren etwa elf oder zwölf Jahre alt, und Michi war bei mir auf Übernachtungsbesuch gewesen, als wir beschlossen, seine Heimkehr mit einer Tour zur beliebten Radlerdestination südlich von Wien zu verbinden. Der obligatorische Besuch im dortigen Eissalon war natürlich die primäre Motivation.
Obwohl die Länge der Strecke für unser zartes Alter nicht ganz unbeträchtlich war – und vor allem bei Gegenwind zu einer echten Herausforderung werden konnte –, hielten sich die Gefahren in für unsere Eltern beruhigenden Grenzen. Der größte Teil der Route bestand schon damals, am Beginn der 1990er-Jahre, aus gesicherten Radwegen. Einzig die Tanbruckgasse und die Philadelphiabrücke waren anfangs irgendwie zu überwinden.
Da wir zu jung und ungeduldig waren, um unsere Räder zu schieben, fuhren wir kurzerhand am Gehsteig die Gasse hinauf. Es kamen uns keine Menschen entgegen, und auch die damals noch dort ansässige Polizeiwache am Eck bereitete uns kein Kopfzerbrechen, denn deren Tür war die meiste Zeit fest verschlossen und undurchsichtig. Selbst wenn jemand die direkt gegenüberliegende Trafik mit einer Panzerfaust überfallen und die Trafikantin anschließend vor dem Geschäftseingang aufgehängt hätte, wäre ein solch barbarischer Akt an den Gesetzeshütern höchstwahrscheinlich unbemerkt vorbeigegangen.
Am oberen Ende der Gasse angekommen, warteten wir auf das grüne Signal der Ampel, und danach fuhren wir in gemütlichem Tempo über die Philadelphiabrücke, die uns bereits die Sicht auf den Schedifkaplatz und den dort beginnenden Fahrradstreifen eröffnete.
Im Wartehäuschen der Bushaltestelle, die sich auf der Brücke befand, standen oder saßen nur eine Handvoll Leute, allesamt unter Dach abseits des Gehsteigs. Als wir jedoch näher kamen, trat sogleich eine schmuddelige Gestalt aus dem Schutz des Häuschens hervor.
Mächtig und intolerant in seiner Ausstrahlung, und doch mirakulös unscheinbar, gekleidet in einen baige-grauen, abgetragenen Mantel, in der Hand ein Billasackerl, die Lippen zwischen seinem ungepflegten Vollbart zu einem hämischen Grinsen verzogen, wandte sich der Mann in unsere Richtung, stellte sich uns in den Weg und breitete seine Arme aus, so dass kein Vorbeikommen mehr möglich war.
In einem süffisant-schadenfrohen, kindlich-singenden Tonfall sprach die Erscheinung nur einen einzigen Satz: „Do is ka Raadweeeg, du O….loch!“
Da Michi ein kleines Stück hinter mir fuhr, hatte mir allein diese verbale Attacke gegolten.
Ich war paralysiert.
Nicht nur wegen des menschlichen Hindernisses, das unerbittlich meinen Weg versperrte, sondern vor allem wegen dessen Aussage und dem Kraftausdruck in ihrer Formulierung. Nie im Leben hätte ich es bis dato für denkbar gehalten, dass ein erwachsener Mensch solch harte Worte an ein Kind zu richten imstande wäre.
Fassungslos und noch immer wie in Trance stiegen wir ab und schoben unsere Räder an dem lebenden Stoppschild vorbei. Obwohl es uns beiden weitgehend die Sprache verschlagen hatte, konnte ich mich immerhin noch zu einem genervten „Ja…!“ durchringen, doch auch hier hatte der Radsandler, wie er künftig von uns genannt werden sollte, das letzte Wort. „Na nix ‚ja‘!“ donnerte seine Stimme hinter uns her.
Nachdem sich das Adrenalin in uns langsam wieder abgebaut hatte, konnten wir unseren Ausflug doch noch richtig genießen. Der Satz des Radsandlers hatte sich allerdings in unseren Ohren festgesetzt und wurde bei vielen Gelegenheiten immer wieder spaßeshalber zitiert.
Und sogar heute, über dreißig Jahre danach, kommt er mir manchmal in den Sinn. Zuletzt, als ich neulich nach langer Zeit wieder einmal die Philadelphiabrücke – diesmal zu Fuß – überquerte und eine Entdeckung machte, die nicht einer gewissen Ironie entbehrt:
Lieber Radsandler, wo immer du gerade bist (ob im Diesseits oder Jenseits), zur Philadelphiabrücke lass dir eines sagen:
Mittlerweile is do a Raadweeeg, du… naja, Sie wissen schon…